Samuel Becketts existentialistisches Theaterstück „Warten auf Godot“ handelt vom grundlegenden Bedürfnis der Menschen auf die Hoffnung nach einem Heiland oder Erlöser. Die Protagonisten warten an einem öden Ort unheimlich lange auf die ihnen unbekannte Person Godot, von der sie nichts anderes als den Namen wissen. Das Warten auf Frank Oceans zweites Album hat unter seinen Fans teilweise ähnliche Ausmaße angenommen. Immer wieder wurde das Erscheinungsdatum verschoben oder ignoriert, immer wieder wurden neue Hinweise gestreut, welche sich dann doch nicht bewahrheitet haben. Mit der Folge, dass nicht nur die Enttäuschung über nicht eingehaltene Releasedates zunahm, sondern auch grundlegende Zweifel aufkamen, ob Frank Ocean überhaupt noch ein Album in absehbarer Zeit veröffentlichen wird.
Zum Glück waren diese Zweifel unbegründet: Frank Ocean legt im Sommer 2016 ein neues Album vor. Dabei hält er sich nicht an das Standardprozedere, sondern veröffentlicht sein neues Opus in mehrfacher Ausführung: Einmal in Form eines visuellen Albums namens „Endless“ – eine Art Fortsetzung des Livestreams, der für einige Wochen auf Frank Oceans Website lief. In dem 45-minütigen Film sieht man Frank Ocean, wie er, begleitet von 18 seiner Songs, in einer Lagerhalle Holzkisten bastelt und stapelt. Das ist spannender als die textliche Beschreibung klingt, wofür auch seine Kollaborateure sorgen: Unter anderem hat er für „Endless“ mit James Blake, dem London Contemporary Orchestra, Jazmine Sullivan, Sampha und Arca zusammengearbeitet.
Außerdem veröffentlichte er ein Magazin unter dem ursprünglichen Namen des Albums „Boy’s Don’t Cry“. In diesem Magazin finden sich Interviews, Bilder und teilweise sehr skurrile Gedichte. Ein besonderes Schmankerl ist folgendes Gedicht, das Kanye West für McDonald’s geschrieben hat:
McDonalds, man, McDonalds, man,
I know them French fries have a plan
The cheeseburger and the shakes formed a band
To overthrow the French fries plan
Die interessanteste Version ist natürlich das heiß ersehnte Album „Blonde“ bzw. “Blond” – warum der Name des Albums mal mit und mal ohne “e” geschrieben wird, lässt Ocean unkommentiert, im Internet kursieren diverse Theorien, z. B. dass es sich dabei um eine Anspielung auf seine Bisexualität handelt, da sich “Blonde” im Englischen explizit auf eine blonde Frau bezieht, während man mit “Blond” alle Personen mit blondem Haar, unabhängig von deren Geschlecht, bezeichnen kann.
Nach den ersten Hördurchgängen wird klar, dass Frank Ocean mit “Blonde” Kunst fabriziert hat – obwohl es ganz anders klingt als erwartet. Jedoch wäre Frank Ocean nicht Frank Ocean, wenn er lediglich die Anforderungen der Popwelt in seiner Musik umsetzen würde. Am ehesten kann „Blonde” als sehr gut gelungenes Understatement-Album beschrieben werden. Es ist nicht fulminant oder dramatisch, sondern vielmehr unaufgeregt. Aber gerade dadurch bekommt “Blonde” eine gewisse Brillanz.
Der erste Track „Nikes“ ist ein karikaturartiges Porträt der modernen, zum Wahnsinn neigenden, markenversessenen Gesellschaft und als Single plus Video kurz vor dem Album erschienen. Frank Ocean singt darin teils mit normaler, teils mit gepitchter Stimme. Das dazugehörige Video überzeugt als Meisterwerk aus ständig wechselnden Bildern. Frank Ocean kommt darin als Sugardaddy, als rappender Chihuahua, als trauriger Teufel, um nur einige seiner Erscheinungen zu nennen, vor.
„Ivy“ besteht nur aus Vocals und schrammender Gitarre, benötigt aber nicht mehr Instrumentalisierung. Der dritte Song „Pink & White“, produziert von Tyler, The Creator und Pharrell Williams, hat einen hörbaren Pop-Einschlag und erweist sich als jener Track auf „Blonde“, der am ehesten an Oceans alte Sachen erinnert. Die „Ah’s“ und „Oh’s“ im Hintergrund, die beim ersten Hören nicht unbedingt auffallen, stammen übrigens von Beyoncé höchstpersönlich. In „Be Yourself“ ist eine Nachricht von Frank Oceans Mutter zu hören, die diese ihm tatsächlich hinterlassen hat: „Many college students have gone to college and gotten hooked on drugs, marijuana and alcohol. Listen, stop trying to be somebody else. Don’t try to be somebody else. Be yourself and know that’s good enough.“ Der nächste Track „Solo“ zeigt allerdings, dass Frank Ocean sich nicht unbedingt an den Rat seiner Mutter gehalten hat: „Hand me a towel I’am dirty dancing by myself. Gone off tags, of that acid“. „Skyline“ und „Self Control“ sind ruhige, melancholische Tracks, die immer wieder von einzelnen Gitarrenklängen begleitet werden. „Good Guy“ ist der einzige Song auf „Blonde“, in dem Frank Oceans Bisexualität offen thematisiert wird: „Good Guy“ handelt von einem Date mit einem Mann, den er online kennengelernt hat (“Blonde” ist eben ein Album des 21. Jahrhunderts). Das Date verläuft aber enttäuschend und entgegen seiner Erwartungen: „You text nothing like you look“. Möglicherweise ist die Sexualität nur das oberflächliche Sujet – “Good Guy” kann ebenso gut als kritische Abhandlung des postmodernen Datingwahnsinns interpretiert werden.
Fazit: „Blonde“ ist nicht nur textlich ein sehr würdiger Nachfolger von „Channel Orange“, auch musikalisch hat sich Frank Ocean stark weiterentwickelt. Erstaunlicherweise weist das Album viele Features auf – unter anderem André 3000, James Blake oder Kendrick Lamar, von denen man zunächst allerdings kaum etwas bemerkt. Weil Ocean selbst sie in den Schatten stellt.
In Becketts Theater ist Godot niemals aufgetaucht, Frank Ocean dagegen schon. Und dieser Ocean hat dazu noch alle Erwartungen übertroffen. Und mit dem sperrigen Album “Blonde”, das einige Anläufe benötigt, um zu zünden, bewiesen, dass er einer der wichtigsten Vertreter des kontemporären R’n’B ist.

4 von 5 Ananas