Fast täglich berichten österreichische Medien über Brasilien. Nicht mehr nur wegen der anstehenden Olympischen Sommerspiele und der dortigen Regierungskrise, sondern auch wegen der Massenvergewaltigung einer 16-Jährigen in einer von Rios zahlreichen Favelas. Mehr als 30 junge Männer sollen sie in einen Hinterhalt gelockt, vergewaltigt und später Videos davon online gestellt haben. Eine Welle der Empörung geht durch das Land. Dilma Rousseff, die kürzlich suspendierte Präsidentin, sowie deren Nachfolger Michel Temer verurteilen die Tat aufs Schärfste. Eine derartige Abscheulichkeit hat den von Sexismus und Gewalt geprägten Alltag vieler brasilianischer Frauen in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt.
Alle vier Minuten ruft in Brasilien eine Frau wegen eines Übergriffs den Notruf. Dabei handelt es sich nur bei etwa 13 Prozent der Fälle um einen Unbekannten, die Täter kommen größtenteils aus dem familiären Umfeld, meistens sind es die Partner der betroffenen Frauen. Die Morde an Frauen stiegen innerhalb der vergangenen zehn Jahre um 21 Prozent an, statistisch gesehen werden in Brasilien durchschnittlich 13 Frauen pro Tag ermordet.
MC Carol hat aus dem permanenten Street-Harrassement in Brasilien eine Rapkarriere gemacht. Sie entspricht eigentlich überhaupt nicht dem, was sich die brasilianische Gesellschaft von einer Sängerin erwartet – sie ist ziemlich dick, schwarz und arm, außerdem lebt sie in einer Favela. Eines Tages ruft ihr ein unbekannter Mann auf der Straße nach: „Vou largar de barriga“, was auf Deutsch so viel heißt wie „Ich werde dich schwängern und dann abhauen“. Am nächsten Tag trifft sie ihn wieder – er schreit ihr dasselbe hinterher – aber diesmal ist Carol vorbereitet, sie antwortet: „Ich schick dich hinter Gitter und zerstör dein Leben, wenn du mich schwängerst und dann abhaust.“ Er hält den Mund und wird von allen ausgelacht. Carols Freunde überreden sie, ein Baile-Funk-Lied aus ihrer Antwort zu machen.
Baile-Funk oder Favela-Funk ist eine in den 1990er-Jahren in den Favelas von Rio entstandene HipHop-Form, dabei werden unter den US-amerikanischen Miami-Bass-Sound traditionelle brasilianische Percussionrhythmen gelegt. Die Texte des Rio-Funks handeln hauptsächlich vom Leben in den Favelas, von Sex, Drogen und Kriminalität, oft sind sie extrem gewaltverherrlichend. Baile-Funk wurde lange und wird auch heute noch teilweise als kultureller Müll angesehen und nicht wirklich ernst genommen. Es ist eine Musik der Armen und viele waren lange der Ansicht, dass sie es genauso wenig wie die Künstler selbst aus den Favelas herausschaffen wird. In den vergangenen Jahren wurde Favela-Funk aber immer populärer, Dokumentationen, Bücher und brasilianische Reality-Shows beschäftigen sich mit dem Thema und der zugehörigen Subkultur. Baile-Funk-Künstler außerhalb Brasiliens sind unter anderem M.I.A. oder Diplo.
Auch Carols zweite Single “Meu namorado é o maior otário”, was auf Deutsch so viel wie „mein Freund ist der größte Idiot“ heißt, wird ein Erfolg. In dem Track verarbeitet sie auf witzige Weise die Beziehung zu einem Ex-Freund, wobei sie sich an dessen Stelle setzt und sagt, dass sie ihn in die Küche schickt und ihre Unterwäsche waschen lässt, wenn er nicht macht was sie ihm sagt.
2015 nimmt Carol an der in Brasilien sehr populären Reality Show „Lucky Ladies“ teil. Wie in so vielen Reality-Shows ist offiziell das Ziel des Formats nicht einfach pure Unterhaltung, sondern die Teilnehmerinnen zu erfolgreichen Sängerinnen auszubilden. Bei MC Carol hat das geklappt, ihre Karriere bekommt nochmal ordentlich Wind, sie wird in ganz Brasilien bekannt. Carol steht sofort im Mittelpunkt der Show, im Gegensatz zu ihren Mitstreiterinnen entspricht sie überhaupt nicht dem in der Musikwelt und vor allem in Brasilien populären Vorstellungen von weiblicher Schönheit, außerdem lehnt sie das kollektive Tanztraining oder Diäten strickt ab und verstellt sich nicht. Sie wird zum Lieblingsthema der lokalen Klatschpresse, in den sozialen Netzwerken attackiert man sie gnadenlos, sie bekommt das gesamte Ausmaß der gesellschaftlichen Diskriminierung gegen jegliche Individualität zu spüren. Carol lässt sich davon jedoch kein bisschen einschüchtern, in Interviews plädiert sie immer wieder für mehr Akzeptanz und weniger Bodyshaming. Sie sagt, die Meinung anderer sei ihr relativ egal, ob fett oder nicht, sie hält sich für die heißeste Frau der Welt.
MC Carol spricht mit ihren Texten vor allem die feministischen, schwarzen und homosexuellen Communities an, die in Brasilien ständigen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Sie bezeichnet sich offen als Feministin, positioniert sich gegen Sexismus, Rassismus und Homophobie, was in der männerdominierten brasilianischen Gesellschaft etwas sehr Neues ist. In Interviews erzählt sie, wie sie von ihrem eifersüchtigen Ehemann Zuhause eingesperrt wurde und ihn daraufhin bei der Polizei angezeigt hat. Ihr Mann änderte sein Verhalten ihr gegenüber grundlegend, sie sind nach wie vor ein Paar. Durch diese Erfahrung wird Carol klar, dass sie etwas bewirken kann, dass sie eine Stimme für die Rechte der Frauen in Brasilien sein kann und dass es tatsächlich die Möglichkeit gibt, etwas zu ändern.